Langsam erwachte Marko aus seiner Bewusstlosigkeit, während der hämmernde Schmerz in seinem Kopf immer stärker wurde. Es war kalt. Vorsichtig öffnete er die Augen, aber um ihn herum war nur Dunkelheit. Und dieser Durst. Er bewegte sich etwas und spürte, das er auf einer weichen Unterlage lag, dann berührte er mit dem linken Arm eine Wand. Nach dem Klang zu urteilen schien es eine Holzwand zu sein, doch da war noch irgendetwas anderes. Schnell griff Marko zur rechten Seite, aber auch dort eine Wand. Als er seinen Arm nach oben ausstrecken wollte, schlug er mit der Hand gegen eine kalte Fläche; ein dumpfes Geräusch.
Warum war es nur so kalt?
Marko versuchte sich zu erinnern, aber es drang nicht der winzigste Erinnerungsfetzen in sein Bewusstsein vor.
Woher kam dieser Kopfschmerz?
Er klopfte gegen Wände und Decke und fühlte die Oberflächen ab, sie waren kalt und etwas feucht. Er versuchte, die Decke wegzudrücken und stemmte sich mit aller Kraft dagegen, erreichte aber nichts außer schmerzender Muskeln. Selbst kräftige Tritte gegen das Fußende ließen das Holz nicht brechen. Irgendwo schien aber doch eine Schwachstelle zu sein, denn jetzt konnte Marko den Geruch von feuchter Erde erkennen. Zwar nur schwach, aber er war da. Langsam bekam er eine Vorstellung davon, wo er war. Irgendjemand, irgendwo, wusste es genau.
Sarg Nr. 132
Eiche massiv
Farbe: Bernstein furniert, Altdeutsch
Länge: 200 cm
Breite: 70 cm
Höhe: 65 cm
Erinnerungen schossen durch seinen Kopf: helle Lichter, lautes Krachen, ein Schlag gegen seinen Kopf. Danach nichts mehr.
Warum war er nicht tot?
War es tatsächlich passiert?
Hatte man ihn lebendig begraben?
Marko bekam Angst, die zu Panik wurde. Er schlug und trat gegen Deckel und Wände, musste aber wegen der Schmerzen schnell wieder aufgeben. Dann schrie er stundenlang um Hilfe. Oder waren es nur Minuten gewesen? Die Stimme versagte und der Durst wurde stärker. Mit Mühe richtete er sich auf und leckte den kalten Sargdeckel ab, an dem sich etwas Kondenswasser gebildet hatte.
Es schmeckte nach Holz.
Langsam wurde er müde. Die Luft war schwer und roch nach baldiger Verwesung, die Temperatur sank um einige Grad. Das Ziffernblatt der Armbanduhr war wegen der Dunkelheit nicht lesbar, Marko hatte jegliche Zeitgefühl verloren. Wie lange war er schon hier? Stunden? Tage? Wie lange war er bereits wach? Ein paar Minuten? Einige Stunden?
Diese verfluchte Dunkelheit! Wenn er doch wenigstens ein Feuerzeug dabei hätte, vielleicht hätte er einen Ausweg finden können. Stattdessen begann er damit, Wände und Decke abzutasten auf der Suche nach einem Spalt oder irgendeiner anderen Schwachstelle im Holz, die ihm weiterhelfen könnte. Mehrere Minuten befühlte er das kalte Holz, vielleicht war es auch eine halbe Stunde, dann legte er sich wieder hin. Der Sarg schien perfekt zu sein, makellos, ein Gefängnis für die Ewigkeit. Die Müdigkeit wurde stärker, die Luft war auch schlechter geworden. Wie lange kann ein Mensch in einem Sarg überleben? Würde er quälend langsam ersticken oder vorher bewusstlos werden?
Aus Langeweile begann Marko wieder, gegen die Decke zu treten. Als er seinen Fuß nicht mehr spürte, nahm er das andere Bein.
Langsam wachte Marko aus seiner Bewusstlosigkeit wieder auf, es war kälter geworden. War er eingeschlafen? Um ihn herum noch immer Dunkelheit. Sein Mund war knochentrocken, aber Marko fehlte die Kraft, sich aufzurichten und seine geschwollene Zunge gegen den kühlen, nassen Sargdeckel zu drücken. Stattdessen hob er den linken Arm und strich mit der Oberseite seiner Finger durch das Kondenswasser, um sich dann seine Finger in den Mund zu stecken und seine Zunge zu benetzen.
Kraftlos lies er den Arm zurückfallen, der jetzt zu schmerzen begann.
Plötzlich schossen Erinnerungen durch Markos Kopf, Fragmente aus seiner Kindheit. Seine Mutter. Sein Vater. Sein Bruder. Sein Kinderzimmer. Großmutter. Onkel, das Haus seiner Eltern, Fernsehserien, Freunde, Konfirmation, erste Freundin, Bücher, Parties, Grundschule, Musik, Opa, Abschlussprüfung, Musik, Kinofilme, Vollsuff, Gesamtschule, Sex, Arbeit, Auto, Schwester, Drogen, Patenonkel, Geburt. Immer mehr Gesichter, Orte, Namen, Gerüche, Ereignisse, Geräusche und andere Gedanken wirbelten durch seinen Kopf; schneller und schneller wurden sie zu einer Symphonie der Erinnerungen seines Lebens.
Dann wachte Marko wieder auf und ihm schien es, als hätte die Temperatur den absoluten Nullpunkt erreicht. Langsam und unter Schmerzen öffnete er den Mund und atmete ein, spürte aber nichts.
Hatte er nun geatmet oder nicht?
Lebte er überhaupt noch? Da waren Kopfschmerzen. Tote spüren keine Kopfschmerzen.
Marko öffnete die Augen: Dunkelheit. Sah so die Schwelle zur Ewigkeit aus? Oder war das die Ewigkeit?
Wie viele Jahrhunderte lag er bereits hier, oder waren es Jahrtausende?
Keine Erinnerungen mehr, die Dunkelheit breitete sich auch in seinem Kopf und seinem Gedächnis aus. War sein Leben aus der Geschichte getilgt, hatte es überhaupt jemals stattgefunden? Was passierte jetzt? Konnte er noch klar denken? Versank nur die Erinnerung in der ewigen Nacht oder wurde seine Existenz komplett beendet? Oder war es nur ein Übergang?
Es wurde wärmer. Sein Körper wurde leichter. Ein diffuses Licht erschien, wurde schnell heller und blendete ihn, dann war alles vorbei.