Runkenstein
Robotic Greetings

Runkensteins Wortkatakomben

Texte aus den tieferen Gefilden des Verstandes
lustig - absurd - düster - kafkaesk - surreal - grotesk


Hörst du nicht die Schreie in der Nacht?


Die erste Nacht in der eigenen Wohnung: Es war kein Wunder, dass Benny nicht einschlafen konnte. Mit geschlossenen Augen lag er in seinem Bett, während sein Gehirn auf Hochtouren lief und von unzähligen Gedanken bestürmt wurde. Die Hitze machte das einschlafen nicht gerade leichter, darum hatte er das Fenster geöffnet: Draußen herrschten inzwischen angenehmere Temperaturen. In der Ferne hörte er von Zeit zu Zeit das schwache brummen eines vorbeifahrenden Autos, während die unmittelbare Nachbarschaft nur die üblichen Geräusche der Nacht darbot.
Er befand sich bereits im Halbschlaf, als ein grauenhafter Schrei ihn in die Realität zurückhole; eine nervenzerreißende Mischung aus dem hungrigen Brüllen eines Raubtieres und dem Schmerzensschrei eines Menschen - aber nichts von beidem konnte es sein, dafür klang es zu fremdartig. Adrenalin schoss durch seine Adern, Sekunden später war Benny wieder hellwach. Angestrengt lauschte er in die Ferne, während er in Gedanken alle Tierarten und menschlichen Tonlagen durchging, die er kannte oder sich vorstellen konnte, doch nichts ähnelte dem Schrei auch nur annähernd.
Da, schon wieder!
Es schien direkt aus dem Geräuscherepetoire eines Horrorfilms zu stammen, doch an soetwas wollte er erst garnicht denken. Es musste eine logische Erklärung geben, vielleicht ein krankes Tier auf einem Bauernhof in der Nähe? Nein, den Gedanken verwarf er sofort wieder. Selbst ein sterbendes Tier konnte keinen so grauenvollen Schrei ausstossen.
Ein weiterer Schrei, jetzt viel länger und seltsam verzerrt!
Er blickte sich in der Dunkelheit seines neuen Zimmers um, wurde nervös. Sollte er kurz das Licht anmachen? Nein, das wäre albern; der Schrei kam zweifelsfrei von draußen, ein gutes Stück weit weg. Trotzdem?
In der Dunkelheit des Zimmers suchte er den Lichtschalter, kurz darauf brannte das Nachttischlämpchen.
Alles in Ordnung, keine Auffälligkeiten. Licht aus, umdrehen, schlafen.
Nur kurz darauf ein weiterer Schrei, dieses mal wütend, fast bösartig!
Nein, das konnte niemals ein Mensch sein. Aber auch kein Tier! Inzwischen wollte er garnicht mehr wissen, was es war. Es sollte nur aufhören.
Das tat es auch. Zwei Stunden und etliche Millionen Gedanken später schlief Benny endlich ein, fühlte sich morgens nach viel zu wenig Schlaf und diversen Alpträumen wie gerädert.

Drei Stunden später traf er in einem Korridor an der Arbeit einen Freund und Kollegen, der in dem selben Ort, nur zwei Straßen weiter wohnte.
"Morgen, Björn." sagte Benny. "Hast du heut Nacht auch diese Schreie gehört?"
"Auch Morgen. Schreie? Was für Schreie?"
"Keine Ahnung, Schreie eben. Irgendwann zwischen eins und zwei, drei mal. Klang ziemlich seltsam, wie aus einem Horrorfilm."
"Da hab ich schon gepennt. Vielleicht ist irgendwo irgendwas verreckt, gibt ja einige Viehställe in dem Kaff."
"Naja, es klang schon sehr seltsam. Du weißt nicht zufällig was über verbotene Genexperimente, UFO-Sichtungen oder verschollene Mutanten?"
"Nein, nichts." Björn begann zu grinsen. "Aber kannst ja mal die Häuser abklappern, ob ob auf irgendeinem Klingelschild 'Frankenstein' steht."
Auch Benny grinste jetzt: "Ich kann ja mal das Telefonbuch durchblättern, geht schneller. Bis dann." Er setzte sich wieder in Bewegung.
"Jo, man sieht sich", sagte Björn, bevor auch er seinen Weg fortsetzte. Kurz darauf drehte er sich nochmal um: "Wenn du es heute nach wieder hörst, kannst du es ja aufnehmen."
"Und womit?"
"Mein Alter hat sich neulich ein neues Diktiergerät gekauft, bestimmt fliegt das alte noch irgendwo rum. Ich bring's dir heute abend vorbei, falls ich es finde."
"Mach das. Tschö."

Am selben Abend lag das Diktiergerät aufnahmebereit auf dem Nachttisch, während Benny hoffte, es nicht benutzen zu müssen. Eigentlich wollte er das Fenster heute geschlossen halten, aber die Hitze in seinem Zimmer vereitelte diesen Plan. Zum Ausgleich schlief er jedoch sehr schnell ein; er war ja lange genug müde gewesen.
Der erste Schrei riss ihn mit der Intensität einer Wasserstoffbombe aus dem Schlaf: Er war doppelt so laut wie gestern, das Etwas schien sich in direkter Nähe des Hauses zu befinden! Plötzlich war er hellwach und schaltete innerhalb von Sekunden das Diktiergerät ein. Die Stille war jetzt unheimlicher als je zuvor und er kam sich seltsam vor, als er so gespannt auf das Geräusch wartete, das er eigentlich nie wieder hören wollte. Nur das leise surren der kleinen Kassette in dem Aufnahmegerät war zu hören, als ihm plötzlich auffiel, wie still es war. Hatte er nicht den ganzen Abend Grillen gehört? Hörte er nicht jeden Abend Grillen zirpen, und war ihr Konzert nicht auch gestern abend verstummt? Ja, er war sich fast sicher.
Es blieb weiterhin still und er fragte sich, ob er vielleicht zum Fenster gehen sollte. Nein, lieber nicht, es könnte ihn sehen.
Das Licht anmnachen? Nein, aus dem selben Grund.
Konnte es vielleicht die Hauswand emporklettern? Durch das Fenster kommen? Unwahrscheinlich. Dann hätte er ja was hören müssen.
Ein Schrei, lauter und länger als je zuvor! Es schien direkt unter seinem Fenster zu stehen! Und er hatte es auf Band! Sollte er es gleich hören? Nein, lieber nicht. Vielleicht kam ein weiterer, und er brauchte so viele Beweise wie möglich. Außerdem hasste er Es, wieso sollte er es sich dann freiwillig anhören? Und gerade jetzt? Nein, er würde abwarten.
Aber es passierte nichts mehr. Die Anspannung lies nach, während die Müdigkeit das Ruder übernahm. Im Halbschlaf hörte er noch das klicken des Diktiergerätes, als die Kassette zu Ende war, kurz darauf schlief er tief und fest.

Gleich nach dem erwachen spulte Benny das Band zurück. Eigentlich wollte er es sich nicht anhören, doch er musste wissen, ob es real oder nur Einbildung war. Was, wenn er es nur in seinem Kopf hörte? Würde das die Sache besser oder schlechter machen? Er wollte nicht darüber nachdenken. Er wollte sich auch nicht das Band anhören, deshalb machte er sich zunächst fertig für die Arbeit. Als er das Haus verlassen wollte, entschied er sich doch dafür, das Band zu hören: Er musste wissen, was er Björn erzählen sollte.
Er nahm das Diktiergerät aus der Jackentasche, zögerte kurz und drückte dann auf den Play-Knopf. Ein kurzes knacken, das Band lief los, aus dem kleinen Lautsprecher drang leises Rauschen. Wie lang hatte es gestern gedauert, bis der zweite Schrei kam? Gestern kam ihm die Zeitspanne wie eine Ewigkeit vor, aber er wußte, das er sich täuschen konnte. In Jacke und Schuhen stand er vor seiner Wohnungstür - es war kurz vor Neun - und wartete auf die Bestätigung, ob er nun langsam dem Verstand verlor oder nicht.
Dann der Schrei! Auf dem Band! Seine Nackenhaare sträubten sich, während er gleichzeitig erleichtert darüber war, das er es sich nicht einbildete, und er sich darüber bewusst wurde, das tatsächlich etwas da draußen war!

Wenig später stand er vor Björns Schreibtisch.
"Moin. Hast du es heute Nacht gehört?"
"Auch Moin. Nein, da war nichts. Ich war zwar lange wach, hab aber am Computer gezockt. Dafür war das Fenster offen. Wann, wie oft, wie laut?"
"Hab nicht auf die Uhr gesehen, muss aber wieder nach halb Eins, Zwei gewesen sein. Zwei mal, den zweiten hab ich erwischt; dieses mal war es sehr nah, vielleicht direkt vor dem Haus."
"Dann lass mal hören" sagte Björn und hielt die Hand auf.
"Hier? Jetzt?"
"Wann und wo sonst? Noch sind wir allein hier, außerdem will ich endlich wissen, was ich da ständig verpasse."
"Na gut." Benny reichte ihm das Diktiergerät. "Hab schon gespult, es dauert genau fünf Sekunden."
"Na dann..." Björn drückte auf Play.
Eins, zwei, drei, vier, fünf... der Schrei! Benny konnte sich nicht dran gewöhnen, zuckte zusammen.
"Und? Hast du es versehentlich gelöscht?"
"Wie gelöscht? Es war doch da! Bist du schwerhörig?"
"Da war nichts. Ich hab zwar gesehen, das du gezuckt hast, aber gehört hab ich nichts. Bildest du dir das vielleicht nur ein?"
"Schwachsinn!" entgegnete Benny sauer. "Wenn ich es mir eingebildet hätte, hätte ich es doch nicht auf dem Band gehört. Ich wäre froh, wenn es Einbildung wäre, dann müsste ich nur zum Psychater. Aber so..."
"...musst du den Hundefänger anrufen."
Benny warf ihm einen eiskalten Blick zu.
"Schon gut, hören wir nochmal." In disem Moment betrat ein Kollege das Büro, warf den beiden ein verschlafenes "Morgen" zu und ging zu seinem Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes.
"Hey, Chris, komm mal her. Benny, was dagegen?" Er deutete auf das Diktiergerät.
"Nein, schon okay."
Christoph hatte die beiden erreicht. "Was geht?"
Björn hielt das Gerät hoch. "Ich lass das Ding zehn Sekunden laufen, dann sagst du uns, was du gehört hast.
"Dann hau' mal rein."
Björn drückte auf Play.
Eins, zwei, drei, vier, fünf... der Schrei! Wieder zuckte Benny zusammen, Christoph hatte es aber nicht bemerkt. Er konzentrierte sich auf das Band.
Als Björn nach zehn Sekunden auf Stop drückte, meinte Chris: "Rauschen, sonst nichts. Was hätte ich denn hören sollen?"
"Das erzählt dir Benny, aber nicht heute. Danke."
"Schon gut." Christoph trottete zurück zu seinem Arbeitsplatz und setzte sich an seinen Rechner.
"Tja, du hast es gehört" sagte Björn.
"Ja, ich habe ES gehört!" entgegnete Benny. "Das hilft mir aber kein bischen weiter. Entweder bin ich bekloppter als ich dachte, oder ihr habt was an den Ohren."
"Wollen wir es noch anderen vorspielen? Innerhalb der nächsten Stunde dürften kommen weitere fünf Leute hier rein. Und spätestens ab Elf sind etwa 200 Leute im Haus."
"Lass gut sein" wehrte Benny niedergeschlagen ab. "Das wird nichts bringen. Aber langsam bekomme ich wirklich Schiss."
"Willst du heute bei mir schlafen?" bot Björn an.
"Nein, schon gut, ich werde einfach das Fenster schließen. Und ich hab noch irgendwo einen Chinaböller. Das wird zwar den Nachbarn nicht gefallen, aber vielleicht wird es ja davon vertrieben, was immer es ist."
"Wie du willst." Björn grinste. "Wenn ich einen Knall höre, weiß ich bescheid."

Am Abend lag Benny hellwach in seinem Bett; leider ohne Chinaböller,, den hatte er nicht gefunden. Im Zimmer war es stockdunkel, auch von draußen gelangte kaum Licht herein. Das Fenster stand wieder offen; die Hitze hatte über die Angst gesiegt.
Nichts passierte. Benny entspannte sich langsam, die Augenlider wurden immer schwerer. Spät in der Nacht, zwei oder drei Stunden später, wurde aus dem gelegentlichen zufallen der Augen ein zwinkern. Dann plötzlich, zwischen mehreren Lidschlägen, eine Bewegung, ein Schemen an der gegenüberliegenden Wand. War das was, oder bildete er sich das nur ein?
Ein leiser Luftzug. Dann noch einer. Ein weiterer. Atmen! Jemand atmete! Und der Schemen bewegte sich, ein winziges Stück!
Da war jemand im Zimmer!
Was jetzt? Das Licht an? Und dann? Das Messer? Konnte es ihn sehen? Und was würde er sehen? Irgendwas musste er machen! Das Atmen wurde lauter.
Das konnte keine Einbildung sein, auf keinen Fall! Er musste das Licht anmachen! Ganz langsam, Millimeter für Millimeter, kroch seine Hand in Richtung des Lichtschalters, der zum Glück direkt neben der Bettkante war. Er wollte sich nicht bewegen, wollte sich am liebsten in Luft auflösen, aber diese Anspannung konnte er nicht länger ertragen.
Der Lichtschalter! Direkt unter seinem Finger! Sollte er es wirklich tun? Er hatte Angst, das pure Grauen hatte von seinem Körper Besitz ergriffen. Aber es gab kein zurück! Das fremde Atmen war lauter und flacher geworden; noch immer leise, aber ganz deutlich zu hören. Langsam atmete Benny ein, ganz tief.
Klick! Der Raum wurde mit Licht überflutet.
OH MEIN GOTT! Am Ende des Bettes stand er selbst! Die Augen waren mit dicken, schwarzen Fäden zugenäht, Lippen und Nase abgeschnitten, die Zähne herausgebrochen! Er war völlig starr vor Angst, der Herzschlag schnürte ihm die Kehle zu. Er öffnete den Mund und wollte schreien, aber die Stimmbänder versagten bei diesem Anblick; doch gleichzeitig öffnete sich der Mund seines verstümmelten Gegenübers. Der Schrei, den seine Lippen verweigerten, drang stattdessen aus der Lunge seines alptraumhaften Zwillings; erfüllte den gesamten Raum in nie gekannter Lautstärke, zerfetzte seine Trommelfelle und drang in das tiefste Innerste seiner Seele ein, wo er nichts mehr übrig lies.

Am nächsten Tag war Benny verschwunden, niemand sah ihn jemals wieder.

Einige Wochen später, in einer heißen Sommernacht, hörte Björn einen seltsamen Schrei, irgendwo in der Ferne. War das ein Mensch? Oder vielleicht doch ein Tier?